Ein Traum wird wahr?
Unsere gemeinsame Zeit.
Wir hatten uns also entschieden und wir boten dem Händler zweitausend Franken, damit er uns den Appaloosa überschreibe. Zunächst wollte er uns ein gleich aussehendes, anscheinend gesundes Pferd verkaufen, das er soeben bekommen habe, und wir sollten das verletzte einfach zurück bringen. Aber wir blieben dabei – wir wollten Kiowa und kein anderes Pferd.
Zwei Tage später hatten wir dann endlich seinen Pass. Die darin enthaltenen Angaben gaben uns viele Fragezeichen auf. Der Ausweis wurde in den Niederlanden 2020 erstellt, ohne Hinweise auf die Vorfahren und einem Geburtsdatum vom 1.1.2013. Ich war entsetzt, denn da stimmte offensichtlich einiges nicht.
Bei einem weiteren Tierarztbesuch kurze Zeit später fragte ich nach, ob das Alter stimmen könne, die Tierärztin bejahte dies aufgrund der Zähne. Ihre weitere Untersuchung ergab leider dasselbe Resultat wie das vom ersten. Sie meinte, dass Kiowa wahrscheinlich einen schweren Unfall hatte und jetzt einfach viel Ruhe und Erholung brauche. Das sollte er natürlich haben. Schon bald darauf durfte er seine erste Shiatsu-Behandlung erleben. Es war unglaublich schön zu sehen, wie er die Berührungen und Zuwendung genoss.
Nach kurzer Zeit hatte ich für ihn eine Bleibe in einem Offenstall in Aesch gefunden. Ich wollte ihm ein schönes Zuhause bieten, wo er so viel Bewegung hatte wie er brauchte, mit Zugang zu seiner eigenen Weide und das Beste – nur zehn Minuten von mir entfernt. So konnte ich viel Zeit mit ihm verbringen.
Inzwischen hatte ich ihn Kiowa getauft, den Namen eines Indianerstamms. Denn seit ich dieses Pferd das erste Mal gesehen hatte, sah ich in ihm einen alten Indianerhäuptling der eine unglaubliche Weisheit und Grösse ausstrahlte.
Immer wieder erlebten wir wunderschöne gemeinsame Momente bei denen unsere Herzenergie ungehindert zueinander fliessen durfte. Wir waren einfach beieinander und liessen uns unsere Dankbarkeit und Liebe gegenseitig spüren. Er strahlte ein unendliche Herzenswärme aus, die mich täglich neu ehrfürchtig staunen liess.
Ich war voller Hoffnung, meinen nun mehr als liebgewonnenen Appaloosa mit viel Zeit und noch mehr Liebe ganz gesund machen zu können. Ich schmiedete insgeheim Pläne für ihn, malte mir aus, ihn nach seiner Genesung in einen Stall zu bringen, wo er in einer kleineren Pferdeherde glücklich leben könnte. Ich wollte nicht auf ihm reiten - das war mir nie wichtig. Ich sah ihn als Weggefährten, als einen wichtigen Teil in unserem Leben. Etwas von ihm zu fordern lag mir fern. Ich wünschte mir einfach, dass er gesund und schmerzfrei bei uns seine schlimme Vergangenheit vergessen, und ein Leben voller Liebe und Zuneigung geniessen konnte.
Orthopädische Koryphäe
Kurze Zeit später hörte ich von einem Arzt, der eine orthopädische Koryphäe sei. Der sollte sich Kiowa anschauen und mir endlich sagen, was ihm fehlte. Als er ihn sich anschaute, meinte er, dass Kiowa auch für ihn eine grosse Herausforderung darstelle. Er sah in seinem Gangbild diverse Probleme, die aber nicht zusammen passten.
Der Umstand, dass er plötzlich keine Eisen mehr trug, hätte vielleicht auch einen Einfluss, da Pferde bis zu einem Jahr brauchten, bis sie sich an das „Barfusslaufen“ gewöhnen und teilweise äusserst sensibel reagierten. Ich wusste ja gar nichts über Kiowa’s Vergangenheit und daher auch nicht, ob er vielleicht aus bestimmten orthopädischen Gründen Eisen tragen sollte. Das wusste ja keiner.
Da sich trotz absoluter Schonung seit Februar nichts verbessert hatte, schlug uns der Arzt vor, das Pferd in die Klinik nach Niederlenz für eine Szintigraphie zu bringen, um damit eventuelle Verletzungen aufspüren und lokalisieren zu können. Ich war anfangs strikte dagegen. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, Kiowa in einen Transporter zu stecken und zwei Tage lang in der Klinik zurück zu lassen, nachdem er so eine lange Odyssee hinter sich hatte und kein wirkliches Zuhause kannte. Ich wollte ihm nicht das Gefühl geben, dass er schon wieder verlassen wird.
Zuhause berieten mein Mann und ich stundenlang darüber, was für Kiowa das Beste sei. Endlich kamen wir zum Schluss, dass es tatsächlich auch für ihn gut wäre, möglichst schnell alle Untersuchungen hinter sich zu bringen, und dafür war nun mal eine Szintigraphie nötig.
Schon am nächsten Tag organisierten wir den Transport für Kiowa und eine Woche später war es dann soweit. Wir fuhren ihn in die Klinik und bis Freitag sollten wir ihn wieder abholen können. Ab da zuckte ich bei jedem Klingeln meines Telefons zusammen, denn meine Angst war riesig, von dort einen Anruf zu bekommen in dem es hiess, die Verletzungen seien doch zu schwer und Kiowa sollte gleich erlöst werden.
Ich war so glücklich als ich den Bescheid erhielt, dass er abholbereit sei, und meine Hoffnungen auf einen guten Ausgang wurden wieder grösser. Als wir Kiowa am Freitag holten, erklärte uns der Arzt was er auf den Bildern gesehen hatte. Mein Pferd hatte unglaublich viele verschiedene Verletzungen, zudem waren drei seiner Hufe entzündet. Der Arzt empfahl einen orthopädischen Beschlag, in der Hoffnung, dass sich so das eine oder andere Problem bessern liess. Abschliessend meinte er, dass es nicht sicher sei, ob das Pferd je wieder reitbar werde. Auch ihm sagte ich, dass mir das völlig egal ist. Es war nie mein wichtigstes Ziel, mich je auf seinen Rücken zu setzen. Ich wollte einfach nur, dass er ein glückliches und schmerzfreies Leben führen konnte. In einem Für-immer-Zuhause, wo er Liebe und Fürsorge erfahren durfte und weiss, dass er für den Rest seiner Tage bleiben darf.
Ein schwerer Unfall
Nun waren sich also schon drei Tierärzte einig, dass Kiowa einen schweren Unfall erlitten haben musste. Was mich im tiefsten Herzen schmerzt und mein Verstand einfach nicht nachvollziehen kann ist, dass es Menschen gibt, die ein Tier einfach nur benutzen und nicht bereit sind, nur ein bisschen auf es einzugehen. Was musste diese liebevolle Seele, dieses wunderbare Pferd alles schon erlebt haben.
Zurück zuhause wurde natürlich sofort der Hufschmied aufgeboten und kurz darauf hat Kiowa seine Schuhe bekommen. Wir konnten schon bald beobachten, dass er wirklich besser unterwegs war. Es schien auch, als hätte er weniger Schmerzen und die Hufe waren nicht mehr warm. Hätte uns der Händler darüber informiert, dass dieses Pferd Eisen braucht, hätten wir natürlich nicht gezögert und ihm sofort einen Spezialbeschlag machen lassen.
Wir verbrachten nun so viel Zeit wie nur möglich mit ihm und er begann jetzt sogar mit meiner Tochter und mir Fellpflege zu betreiben, wenn auch nicht immer so sanft, und zeigte uns damit seine Zuneigung. Von diesem Moment existiert es sogar einen kleinen Film
https://youtube.com/shorts/IW0FycJ0cAA?feature=shareAuch gab es immer wieder Momente in denen er mir zärtlich seinen Kopf an meinen Bauch oder meine Beine drückte, inne hielt und einfach zuliess, dass ich ihn ganz lieb über seine Wangen streichelte und mit ihm redete.
Immer wenn ich vor Kiowa stand und ihn von vorne umarmte, hielt er seinen Kopf um meinen Rücken oder meine Beine geschlungen und drückte mich fest an sich. Das war seine Art, mich zu umarmen.
Wenn wir bei ihm im Stall Pizza assen, mussten wir ihn davon abhalten, uns ein Stück zu klauen. So ein neugieriger, verspielter Lausbub war er. Auch der Besen hatte es ihm angetan und er war hinter ihm her und wollte ihn unbedingt haben, wenn wir am Wischen waren.
Wehemut
Ich erinnere mich mit Wehmut an unsere gemeinsamen ruhigen Stunden, wenn ich mich mit einem Klappstuhl in seinen Stall setzte, einfach nur um die Zeit mit ihm zu geniessen. Es war mir zur Gewohnheit geworden, mir bei dieser Gelegenheit einen Becher San Pellegrino einzuschenken. Doch ich konnte mein Mineralwasser nie alleine trinken, denn Kiowa fand es zu lustig, wie die Kohlensäure an seinen Nüstern prickelte und wollte auch etwas davon abhaben.
Nach dem Spezialbeschlag vergingen fast vier Wochen bis der Orthopädie-Arzt wieder auf den Hof kam. Wir hatten dies telefonisch so vereinbart, denn er meinte es sei gut wenn Kiowa Zeit hätte sich wieder an die Eisen zu gewöhnen, und sich so vielleicht schon einiges beruhigen konnte.
Ich war voller Hoffnung und gleichzeitig voller Angst vor einer schlechten Diagnose. Der Arzt verlangte Kiowa im Roundpen zu sehen. Es war das erste Mal, dass er ins Roundpen ging und der Anblick gab mir einen Stich ins Herz. Sogar mein Mann, der von Pferden nicht viel verstand, sah sofort, dass mein Pferd erbärmlich lief. Mein Herz schlug mir bis zum Hals.
Zurück beim Auto des Tierarztes liessen wir uns von ihm nochmals die Bilder der Szintigraphie erklären. Er meinte, er habe diese stundenlang studiert und sich viele Gedanken darüber gemacht, wie wir Kiowa helfen könnten. Die Liste der gesundheitlichen Probleme nahm kein Ende: untere Halswirbelsäule, Brustwirbelsäule, Hüften, Knie, Spat, Patellasehne, Ellbogen, die Hufe … überall gab es schlechte Prognosen. Der Arzt nannte uns zwei Möglichkeiten um meinem geliebten Pferd zu helfen. Die eine – wir bringen Kiowa zu ihm zum Röntgen um festzustellen, ob wir es mit Arthrose, einem Bruch der Halswirbel, Kissing Spines oder andere Probleme an der Brustwirbelsäule zu tun hätten. Er warnte uns aber, dass auch diese Abklärung nicht zwingend etwas Hilfreiches ergeben musste. Die andere Möglichkeit wäre: ihn zu erlösen. Mein Traum, ihn irgendwo in einer kleinen Herde sein Leben geniessen zu lassen wäre absolut keine Option. Er würde bis ans Lebensende Schmerzmittel bekommen müssen und spezielle Therapien brauchen und trotzdem würde er nie ganz schmerzfrei sein.
Mein Herz wollte zerspringen. Ich fühlte eine Zentner schwere Last auf meiner Brust und konnte kaum atmen. Unfähig einen klaren Gedanken zu fassen fühlte ich mich wie in Trance. Alles was der Tierarzt uns da erzählte war irgendwie surreal. Ich bat ihn, uns Schmerzmittel dazulassen, denn ich war nicht fähig sofort eine Entscheidung zu treffen.
Es war klar...
Am nächsten Morgen war es dann für mich klar. Meine Liebe zu Kiowa war so gross, dass ich ihn gehen lassen musste. Ich hatte mich in dieser kurzen Zeit so in diese wunderbare Seele verliebt, dass ich ihn nicht weiter leiden lassen durfte. All die Schmerzen, all das Schlimme, das er in seinem kurzen Leben erfahren hatte – es war meine Pflicht, ihn davon zu erlösen.
Mein Herz wurde immer schwerer und ich fühlte mich nur noch leer. Umso dankbarer war ich dafür, dass Kiowa mir seine Gedanken übermittelte. Seine Mitteilung an mich: „Ich weiss, dass ich nicht mehr lange hier sein werde. Aber ich werde dich nie verlassen, ich gehöre zu dir. Ich will nicht, dass sich jemand in finanzielle Schwierigkeiten bringt wegen mir. Meine Zeit ist begrenzt und es ist schön, dass du mich gerettet hast, denn dadurch durfte ich zu dir kommen. Das war mein Weg zu dir … aber es ist klar, dass ich demnächst gehen werde, aber nur, um sofort wieder an deiner Seite zu stehen. Denn ich bin gekommen, um dir Halt und Hilfe in der Zukunft zu geben. Ich werde helfen, werde Brücken bauen. Ich liebe dich genauso sehr wie du mich, doch man sollte wissen wann es Zeit ist zu gehen.
Ich weiss, dass es meine Bestimmung ist dir zur Seite zu stehen, aber in anderer Form als bisher. Wir gehören zusammen, sind ein Team. Ich bin bereit zu gehen und will es auch. Es fühlt sich an, als wenn ich mit gepacktem Koffer auf einem Bahnsteig stehe und der Zug hält vor mir, aber ich kann nicht einsteigen weil ich kein Ticket habe. Bitte warte nicht mehr zu lange.“
Kiowas Wunsch war es also, an meiner Seite zu stehen, mir zu helfen mehr durchzustarten und das konnte er nur, wenn er seinen kranken Körper verlassen durfte. Er war kein bisschen frustriert, traurig oder wütend. Im Gegenteil er war sehr ruhig und verständnisvoll. Seine Bitte an mich war, ihn aus diesem kranken Körper zu befreien, dies empfand er als absoluten Akt der Liebe. Erst dann konnte es richtig vorwärts gehen.